27
Jan 2020

Unendlich wertvoll

Thema: Gesundheit & Politik

Achtsamkeit ist ein geflügeltes Wort im Business geworden. Das Problem mit „geflügelten Worten“ ist ihr unreflektierter und zuweilen inflationärer Gebrauch. Das wäre auch nicht mehr achtsam.

Ein Grund für die erhöhte Aufmerksamkeit und Popularität liegt sicher in der wissenschaftlich bewiesenen stressreduzierenden Wirkung von Praktiken und Techniken der Mindfulness-Bewegung, die seit den 1960er Jahren aus den USA auch nach Europa gekommen ist.

»Take Care of Yourself, to Take Care of Business!«

Aus Amerika
frei übersetzt: »Achte auf dich, damit du dich um’s Geschäft kümmern kannst.«

Doch Achtsamkeit / Mindfulness ist weit mehr als nur ein gutes Mittel, um Führungskräfte von Stress zu befreien. Und ganz gewiss ist Achtsamkeit mehr als ein Mittel zur egozentrischen Leistungsoptimierung. Es ist gewissermaßen das genaue Gegenteil davon. An dieser Stelle möchte ich nur eine Facette von Achtsamkeit betonen, die für nachhaltigen geschäftlichen Erfolg unverzichtbar ist: Umsicht und Verantwortung für alle Menschen im Team, in der Abteilung und im Unternehmen, und für ihre Bedürfnisse im aktuellen Moment. Denn sie sind – wie jeder Mensch – unendlich wertvoll.

Was soll diese Wortspielerei?

Ein nachhaltig erfülltes und erfolgreiches Leben ist weder im Beruf, noch privat möglich, ohne dass wir uns der Dialektik von Gewohnheiten bewusst werden, die über Generationen unser Verhalten bestimmt und unsere Einstellung geprägt haben. Und eine solche Haltung hat sich spätestens in den vergangenen 40+ Jahren durchzusetzen begonnen. Verkürzt lautet sie:

  1. Der Zweck eines Unternehmens besteht darin, dass es Gewinne macht.
  2. Jedes gesetzlich erlaubte Mittel wird durch diesen Zweck geheiligt
  3. Mitarbeiter sind ebenfalls Mittel zu diesem Zweck
  4. Als Gegenleistung für ihre Arbeitskraft erhalten Mitarbeiter einen Lohn, der von der Marktlage bedingt wird. Damit sind ihre Ansprüche abgegolten.
  5. Das Leben ist kein Ponyhof und ein Unternehmen kein Sozialamt. Eigentümer gehen mit privatem Kapital „ins Risiko“, weshalb es legitim ist, dass Shareholder Value oberste Priorität hat.

Was ist daran problematisch?

Der Haken an dieser Sichtweise ist ihre Enge und Begrenztheit. Das unendliche Spiel der Wirtschaft kann nicht gewonnen werden. Und schon gar nicht mit einem endlichen Mindset. Das Beharren auf bevorzugte Berücksichtigung von Eigentümerinteressen, Shareholder-Value-Denken, ist ein Produkt von endlichem Mindset: Ich habe gegeben, also muss ich auch bekommen, weil ich sonst verliere.

Es handelt sich in der Wirtschaft nicht um eine zeitlich begrenzte Auseinandersetzung einer von vornherein bestimmten und bekannten Anzahl von Wettbewerbern. Das Spiel wird immer weitergehen, und es kann jeden Tag ein neuer Wettbewerber auftauchen, den bis dahin niemand auf der Rechnung hatte. mySpace ist von Facebook kalt erwischt worden. Es war bis 2008 die profitabelste und dominierende Internet-Platform und rangiert heute bei 150 Millionen Dollar Jahresumsatz auf Rang 2860.

Facebook ist aktuell die Nummer 4 auf der Liste der meistbesuchten Websites. Und auch das ist keine Leistung, die aussagt, ob das Unternehmen auch noch in zehn Jahren führend sein wird. Dazu wäre neben einigen anderen Punkten, über die Simon Sinek in seinem Buch »Das unendliche Spiel« geschrieben hat, vor allem Vertrauen im Team notwendig.

Everybody Matters, jeder einzelne ist unendlich wertvoll, sagt sinngemäß Bob Chapman, der CEO von Barry-Wehmiller, über seine 13.000 Mitarbeiter. Wer das für eine hohle Phrase und Marketing-Tam-Tam hält, mag sich beim Maschinenbauer Winkler+Dünnebier in Neuwied am Rhein umhören. Der Betrieb gehört seit 2016 zum amerikanischen Mischkonzern BW, dessen Erfolg auf klar kommunizierte Werte und eine menschlichenfreundliche Unternehmenskultur seit mehr als zwanzig Jahren zurück zu führen ist.

Natürlich ist eine menschliche Kultur allein kein Garant für unternehmerischen Erfolg. Auch Bob Chapman legt großen Wert auf eine klar durchdachte Business-Strategie. Sie sei „der Bus“, in den einzusteigen alle Mitarbeiter „eingeladen“ werden. Während jedoch Management Gurus wie Jim Collins dafür plädieren, „die richtigen Leute in den Bus“ zu holen [First Who, Then What], und damit bereits sehr nah an der bedenklichen rank&jank -Mentalität liegen, ist das Barry-Wehmiller-Konzept auf der Fürsorgepflicht des Unternehmens und seiner Leader für ihre Teammitglieder aufgebaut: Es geht darum, den „sicheren Bus“ gut und achtsam zu steuern, damit jeder Insasse das gemeinsame Ziel nicht nur erreicht, sondern auch die jeweiligen persönlichen Gaben und Talente bestmöglich einbringen kann.

Vertrauen entsteht, wenn Mitarbeiter fühlen, dass ihre persönliche Entwicklung dem Unternehmen am Herzen liegt und nicht gleichgültig ist. Eines der Beispiele für den erstaunlichen Wandlungsprozess, der dann einsetzt, ist bei Barry Wehmiller die Geschichte von Randall Fleming.

Randall FlemingRandall, ein ehemaliger Marinesoldat, war bekannt als Randy. Und als „schwieriger Charakter“. Im Zuge seines Scheidungsverfahrens wurde ihm bescheinigt, er sei entweder wütend oder jähzornig. „Dazwischen gab es nichts,“ sagt er selbst. Die Firma, in der er arbeitete im nördlichen Wisconsin, wurde von Barry Wehmiller übernommen. Als ihm die Grundsätze der Unternehmens- und Führungskultur vorgestellt wurden, hat Randy zynisch dankend abgelehnt: „Darauf falle ich nicht rein.“ Seine Vorgesetzten hatten Geduld mit ihm und gaben Randy Raum.

Als im Zuge der Rezession 2008/09 auch Barry Wehmiller dreißig Prozent seines Auftragsvolumens verlor, führte dies jedoch nicht zu der von der Belegschaft erwarteten Entlassungswelle. Bob Chapmann und die BW-Führungsmannschaft besannen sich auf ihre Führungsgrundsätze [Guiding Principles of Leadership], wonach Erfolg sich daran bemisst, welche Wirkung das Unternehmen auf die Menschen hat, die mit ihm in Berührung kommen. Statt Entlassung und damit verbundener Hoffnungslosigkeit in vielen Familien, wurde über den gesamten Konzern je Mitarbeiter einen Monat Kurzarbeit vereinbart. Niemand musste gehen, jeder hat ein Teil der Lasten geschultert. Und zwar Top-Down.

Als Randy Fleming das sah, wurde er nachdenklich. „Vielleicht ist es tatsächlich ein Unternehmen, dem es nicht egal ist, wie es seinen Leuten geht,“ so Fleming. Nach und nach gab er seine destruktiv-distanzierte Abwehrhaltung auf. Er besuchte Kurse in der Barry-Wehmiller-University genannten internen Weiterbildungsabteilung, um sich persönlich etwas Gutes zu tun. Heute ist Randall (die Kurzform Randy hat er abgelegt als Ausdruck seines Bewusstseinswandels) selbst Dozent für eine Reihe von Führungsthemen an der BWU.

Seine persönliche Veränderung bekam er über das Verhalten seiner Töchter ihm gegenüber gespiegelt: „Ihre Kindheit verbrachten Sie bis zur Scheidung mit diesem jähzornigen und Furcht einflößenden Kerl. (…) Heute sind sie meine besten Freunde, und sie sagen dasselbe von mir. Ich bin der erste, den sie anrufen, wenn es etwas neues in ihrem Leben gibt. Wir sprechen über alles. Eine Hundertachtzig-Grad-Wende zu früheren Zeiten!“

Take care of your employees, and they’ll take care of your business. It’s as simple as that.

Sir Richard Branson
frei übersetzt: »Sorge für das Wohlergehen der Menschen, die für dich arbeiten, und sie werden dafür sorgen, dass dein Unternehmen läuft. Soeinfach ist das.«

Unterstützen Sie meine Arbeit:

Patron werden
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Älteste
Neueste
Inline Feedbacks
View all comments
trackback
4 Jahre zuvor

[…] erhalten bleibt und wachsen kann, ist es von großer Bedeutung, klar zu machen, worum es geht: Everybody Matters – jeder einzelne zählt! Der Erhalt des Unternehmens ist die Folge, nicht der Zweck von […]

Entdecke mehr von Alschner.Klartext

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen