Der Nürnberger Kodex – Was er bedeutet
Thema: Gesundheit & Politik
Wenn am heutigen Samstag, 20 August, in Nürnberg mit einer großen Gedenkveranstaltung an den 75. Jahrestag der Verabschiedung des Nürnberger Kodex erinnert wird, so wirft dies bei vielen Menschen Fragen auf. Was ist der Nürnberger Kodex? Wie kam es dazu, was hat es mit dem Kodex heute auf sich? Eine Einordnung aus historischer Sicht für die Epoch-Times, Printausgabe vom 20. August 2022
Von Uwe Alschner
Entstanden ist der Nürnberger Kodex im Rahmen der „Nürnberger Prozesse“. Diese fanden von 1945 bis 1949 in Nürnberg statt und begannen als Internationales Militärtribunal. Nach der Verurteilung der prominentesten Nazi-Größen im Oktober 1946 folgten zwölf weitere Prozesse, die jedoch nicht mehr vor einem alliierten Militärgericht angeklagt und verhandelt wurden, sondern unter Verantwortung der US-amerikanischen Streitkräfte. Der „Ärzteprozess“ war der erste dieser zwölf Folgeprozesse und fand vom Dezember 1946 bis zum August 1948 statt. Im Rahmen der Urteilsverkündung wurde am 19. August der seither unter dem Namen „Nürnberger Kodex“ bekannte Grundsatztext über „Zulässige Medizinische Experimente“ verkündet, an dem mit Werner Leibbrand auch ein renommierter Medizinethiker aus Deutschland (Erlangen) mitwirkte.
Für eine Einordnung des Nürnberger Kodex ist es wesentlich, zu verstehen, dass der Kodex als solches gerade kein Kodex ist, der ausschliesslich Nazi-Verbrechen verbietet, oder Versuche, welche in äußerlich erkennbarer Grausamkeit in Lagern stattfinden.
Der Nürnberger Kodex, darauf wies bereits seinerzeit Werner Leibbrand bei seiner Aussage vor dem Gericht hin, erweitert das auch heute wieder auf die hippokratische Ethik ausgerichtete und damit von einem hierarchischen Gefälle zwischen (wissendem) Arzt und (unkundigem) Patienten geprägte Verhältnis.
Der Nürnberger Kodex bringt in dieses Verhältnis die Dimension universeller und unveräußerlicher Menschenrechte ein. Leibbrand kritisierte, dass seit Beginn der 20, Jahrhunderts ein biologistisches Denken in der der Medizin eingesetzt hatte, die den Patienten zu einem Objekt degradierte, „welches aus nichts als einer Reihe biologischer Reaktionen“ bestehe. Leibbrand bezeichnete diese positivistisch-scientistische Haltung als unmoralisch, weil sie die Achtung vor dem Leben vermissen lasse. Er kritisierte damit auch die Verletzung der später im Grundgesetz als unantastbar verankerten menschlichen Würde.
Bereits 1898 hatte der sogenannte Neisser-Skandal um den Breslauer Medizinprofessor Albert Neisser hohe Wellen geschlagen und im Kaiserreich zum Erlass einer Verordnung über die Durchführung von Experimenten geführt, welche immerhin die Zustimmung der Versuchsperson voraussetzte. Diese Verordnung, und eine weitere aus der Weimarer Republik von 1931, an deren Zustandekommen der später in Theresienstadt ermordete jüdische Arzt und Politiker Julius Moses mitgewirkt hatte, wurden durch den Nürnberger Kodex präzisiert und unauslöschlich ins öffentliche Bewusstsein geschrieben.
In dieser Hinsicht ist neben der Kodifizierung der informierten Zustimmung der Versuchspersonen im vollen Bewusstsein aller potentiellen Risiken und Freiwilligkeit ohne jede Form von Zwang oder Lockung eine weitere epochale Weiterentwicklung im Nürnberger Kodex verankert:
Es ist seither die Pflicht und persönliche Verantwortung einer jeden, an der Anordnung oder Ausführung beteiligten Person, sicherzustellen, dass die Information die notwendigen qualitativen Anforderungen erfüllt. Dies bedeutet, eine Verantwortung, dass alle relevanten Informationen mitgeteilt und auch verstanden werden, kann nicht delegiert oder gesetzlich aufgehoben werden. Jede Person, die an einem Versuch durch Anordnung, Vorbereitung oder Durchführung mitwirkt, ist verantwortlich für das, was im Rahmen eines Versuchs geschieht.
Werner Leibbrand, ein Gegner der Nazis, der sich während der Nazizeit mit seiner jüdischen Frau zunächst nach Nürnberg (!) zwangsversetzten lassen und später untertauchen musste, trat auch dem heute häufig geäußerten Gedanken einer Pflicht des Individuums zur Unterordnung unter das allgemeine oder das Wohl des Staates entgegen. Auf Rechtfertigungen, wonach bestimmte Versuche notwendig seien, um das „Staatswohl“ zu bewahren, welches über dem Wohl des Individuums rangiere, antwortete Leibbrand ausweislich des Verhandlungsprotokolls vom 27. Januar (!) 1947: Auch wenn der Staat solche tödlichen Versuche an Menschen anordnen mag, bleibe es doch die Verantwortung eines jeden Arztes, solche Befehle zu missachten.
Die Bedeutung des Nürnberger Kodex geht also weit über den unbestreitbar erschreckend grausamen Kontext der NS-Medizin hinaus. Der Kodex mahnt Ärzte und bestärkt das Individuum in seinen unveräußerlichen Rechten. Eine Verhöhnung von Opfern ist gerade dann nicht zu erkennen, wenn es darum geht, die Lehren aus dem Schrecken zu ziehen. Insofern ist der Nürnberger Kodex für alle Menschen Richtschnur und Hilfe gleichermaßen.
Gleichzeitig mahnt der Nürnberger Kodex auch, seine Vorgeschichte zu studieren. Dazu zählen die intensiven, aber bisher kaum beleuchteten Verbindungen der Eugeniker in Deutschland und insbesondere Amerika, aber auch in Großbritannien. Die Eugenik war jene pseudo-wissenschaftliche Ideologie, auf der viele Experimente des Auschwitzer KZ-Arztes Josef Mengele fußten. Mengele wurde in Nürnberg in Abwesenheit verurteilt.
Mengele war Schüler Otmar von Verschuers, einem Eugeniker, der 1946 von der CIA-Vorläufer-Organisation OSS unter Allan Dulles im Rahmen der Operation Paperclip in die USA geholt worden war. Operation Paperclip diente dem Wissenstransfer, bzw. im Falle der Eugeniker der Wissensbewahrung im Einflussbereich der USA. Mengele verfasste minutiöse Berichte über seine Versuche und sandte sie u.a. an seinen akademischen Lehrer Verschuer, damals Professor in Berlin und Leiter des Kaiser Wilhelm Instituts, welches mit Mitteln der pro-eugenischen Rockefeller-Stiftung am Beginn der Nazizeit zum internationalen Zentrum der Eugenik und Rassenforschung ausgebaut worden war.
Verschuer wurde als „Mitläufer“ entnazifiziert und akademisch rehabilitiert. Mengele konnte aus Auschwitz entkommen und starb in Freiheit. Über die Taten Mengeles wusste Verschuer intensiv Bescheid, aber er log in eidesstattlichen Erklärungen über seinen Musterschüler: „Von seiner Arbeit ist nur bekannt geworden, dass er sich bemüht hat, den Kranken ein Arzt und Helfer zu sein.“
Otmar von Verschuer war Mitgründer der Mainzer Akademie der Wissenschaften und zeitweilig Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Münster. Er war also auch nach der Nazizeit etabliert im medizinischen Establishment des Westens, welches heute noch mehr als damals abhängig ist von industriellen Interessen. Grund genug, an die universelle Bedeutung des Nürnberger Kodex zu erinnern, den kein Grundsatzwerk einer ärztlichen Gesellschaft ersetzen kann.
Freie informierte Zustimmung ist ein Menschenrecht. Nicht nur, aber auch in medizinischen Experimenten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Epoch Times vom 20. August 2022.
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