»Alles was “smart” oder “personalisiert” ist, dient der Überwachung«
Thema: Gesundheit & PolitikDie voranschreitende digitale Revolution kann sehr verheißungsvoll erscheinen. Doch Shoshana Zuboff, emeritierte Professorin an der Harvard Business School, warnt davor, dass ihre bunten Lichter, zauberhaften Glöckchen und süßen Flötentöne uns blind und taub dafür gemacht haben, wie Hightech-Giganten unsere persönlichen Daten für ihre eigenen Zwecke ausbeuten.
In ihrem Buch “Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus” zeichnet Zuboff ein beunruhigendes Bild davon, wie Silicon Valley und andere Unternehmen die Daten der Nutzer auswerten, um deren Verhalten vorherzusagen und zu beeinflussen.
Die Harvard Gazette führte im Jahr 2019 ein Interview mit Zuboff über ihre Überzeugung, dass der von ihr 2014 geprägte Begriff des Überwachungskapitalismus die persönliche Autonomie untergräbt und die Demokratie aushöhlt – und darüber, wie sich die Gesellschaft ihrer Meinung nach dagegen wehren kann. Wir dokumentieren das Interview im übersetzten Wortlaut.
HARVARD GAZETTE: Die digitale Revolution begann mit großen Verheißungen. Wann begannen Sie sich Sorgen zu machen, dass die Tech-Giganten, die diese Entwicklung vorantreiben, mehr daran interessiert sind, die Menschen auszubeuten, als ihnen zu dienen?
ZUBOFF: In meinem Buch “The Support Economy” aus dem Jahr 2002 habe ich mich mit den Herausforderungen befasst, die sich dem Kapitalismus beim Übergang von einer massen- zu einer individualorientierten Konsumstruktur stellen. Ich habe beschrieben, wie wir endlich über die Technologie verfügen, um die Kräfte von Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Allerdings deuteten schon die ersten Anzeichen darauf hin, dass die Macher dieser ersten Generation des elektronischen Geschäftsverkehrs mehr mit der Zurückverfolgung durch Cookies und der Generierung von Klicks für die Werbung beschäftigt waren als mit der historischen Chance, die sich ihnen bot.
Eine Zeit lang dachte ich, dass es vorübergehende Fehlentwicklungen im Rahmen eines tief greifenden strukturellen Wandels waren, aber spätestens 2007 wurde mir klar, dass es sich um eine neue Variante des Kapitalismus handelte, die sich im digitalen Milieu breit machte. Die Möglichkeiten, Angebot und Nachfrage an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten, wurden von einer neuen wirtschaftlichen Logik überholt, die einen schnellen Weg zur Monetarisierung bot.
GAZETTE: Was sind die Gründe dafür, dass wir nicht bemerken, wie wir unsere Autonomie an Facebook, Google und Co. aus der Hand geben?
ZUBOFF: Ich definiere Überwachungskapitalismus als die einseitige Aneignung der privaten Erlebnisse von Menschen als kostenloses Rohmaterial zur Verwertung in Daten über das Nutzerverhalten. Diese Daten werden dann berechnet und als Produkte zur Verhaltensvorhersage verpackt und an Terminbörsen weiterverkauft – Geschäftskunden, die ein kommerzielles Interesse daran haben, zu wissen, was die Menschen heute, morgen und in Zukunft tun werden. Google hat als erstes Unternehmen gelernt, wie sich zusätzliche Verhaltensdaten erfassen lassen, die über das hinausgehen, was das Unternehmen für seine Dienste benötigt, und hat sie zur Berechnung von Vorhersageprodukten verwendet, die es an seine Geschäftskunden, in diesem Fall an Werbekunden, verkaufen konnte. Meines Erachtens ist der Überwachungskapitalismus jedoch genauso wenig auf diesen ursprünglichen Kontext beschränkt, wie beispielsweise die Arbeit am Fließband auf die Herstellung von Fords T-Modellen beschränkt war.
Bei Google war man sich von Anfang an darüber im Klaren, dass die Nutzer dieser einseitigen Aneignung ihrer Daten und deren Umwandlung in Verhaltensdaten wahrscheinlich nicht zustimmen würden. Es war klar, dass diese Methoden unsichtbar sein mussten. Die Logik spiegelte also von Anfang an die sozialen Beziehungen des einseitigen Spiegels wider. Sie konnten die Daten sehen und nutzen – und zwar auf eine Art und Weise, die wir nicht beanstanden konnten, weil wir nicht wussten, was vor sich ging.
Wir stürzten uns auf das Internet in der Erwartung, dass es uns zu mehr Selbständigkeit verhilft, das Wissen demokratisiert und uns bei echten Problemen hilft, aber der Überwachungs-Kapitalismus war einfach viel zu lukrativ, als dass man ihm hätte widerstehen können. Diese wirtschaftliche Logik hat sich inzwischen über die Technologieunternehmen hinaus auf neue überwachungsbasierte Ökosysteme in praktisch jedem Wirtschaftssektor ausgeweitet, von Versicherungen über Autos bis hin zu Gesundheit, Bildung und Finanzwirtschaft. Alle Produkte, die als “smart” bezeichnet werden, und alle Dienstleistungen, die als “personalisiert” bezeichnet werden, sind inzwischen Gegenstand der Überwachung. Mittlerweile ist es sehr schwierig, effektiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ohne mit eben diesen Kanälen in Berührung zu kommen, aus denen sich die Datenströme des Überwachungskapitalismus speisen. So berichtete ProPublica vor kurzem, dass Geräte, die von Menschen mit Schlafapnoe gekauft werden, heimlich Nutzungsdaten an Krankenversicherungen senden, wo die Informationen dazu verwendet werden können, reduzierte Versicherungsleistungen zu rechtfertigen.
GAZETTE: Warum haben wir bis heute nicht begriffen, welche Auswirkungen all diese Überwachung hat?
ZUBOFF: Dafür gibt es viele Gründe. Ich führe 16 Erklärungen dafür auf, “wie und warum sie damit durchkamen”. Ein wichtiger Grund ist, dass die ungeheure, noch nie dagewesene Qualität der Methoden und Verfahren des Überwachungskapitalismus uns erschwert hat, sie zu erkennen und ihre Bedeutung und Folgen zu begreifen.
Ein weiterer Grund ist, dass der Überwachungskapitalismus, der 2001 von Google erfunden wurde, von einer Reihe wichtiger historischer Ereignisse profitiert hat. Zum einen entstand er in einer Zeit, in der ein neoliberaler Konsens über die Überlegenheit von sich selbst regulierenden Kräften des Marktes und der Unternehmen herrschte. Staatliche Regulierung wurde als Belastung für das freie Unternehmertum angesehen. Ein zweiter historischer Faktor ist, dass der Überwachungskapitalismus im Jahr 2001, dem Jahr der Anschläge vom 11. September 2001, erfunden wurde. In der Zeit vor dieser Tragödie wurden im Kongress neue Gesetzesinitiativen zum Thema Datenschutz diskutiert, von denen einige durchaus Praktiken hätten verbieten können, die zur Routine des Überwachungskapitalismus wurden. Doch nur wenige Stunden nach dem Anschlag auf die Türme des World Trade Centers änderte sich die Diskussion in Washington von der Sorge um die Privatsphäre zu einer Beschäftigung mit dem “Bewusstsein für die Gesamtheit der Informationen”. In diesem neuen Umfeld waren die Geheimdienste und andere mächtige Kräfte in Washington und anderen westlichen Regierungen eher in der Lage, die aus dem kommerziellen Sektor stammenden Überwachungsmöglichkeiten einzusetzen und auszubauen.
Ein dritter Grund ist, dass diese Methoden darauf abzielen, uns unwissend zu halten. Die Rhetorik der Pioniere des Überwachungskapitals und so gut wie aller anderen Akteure danach ist ein Lehrbuch der Irreführung, Beschönigung und Verschleierung. Ein Thema der Irreführung war es, den Menschen die Idee zu verkaufen, dass die neuen wirtschaftlichen Praktiken eine unausweichliche Folge der Digitalisierung sind. In Amerika und im gesamten Westen glauben wir, dass es falsch ist, den technischen Fortschritt zu bremsen. Der Gedanke ist also, dass, wenn diese bedenklichen Praktiken die unausweichliche Folge der neuen Technologien sind, wir uns wohl einfach damit abfinden müssen. Dies ist ein gefährlicher Denkfehler. Es ist unmöglich, sich den Überwachungskapitalismus ohne die Digitalisierung vorzustellen, aber es ist leicht, sich die digitale Technologie ohne den Überwachungskapitalismus vorzustellen.
Eine vierte Erklärung betrifft die Abhängigkeit und den Ausschluss von Alternativen. Wir sind heute auf das Internet angewiesen, um an unserem täglichen Leben teilzuhaben. Egal, ob es um die Kommunikation mit dem Finanzamt oder dem Gesundheitsdienstleister geht, fast alles, was wir heute tun, um die einfachsten Anforderungen der sozialen Teilhabe zu erfüllen, läuft über dieselben Kanäle, aus denen sich der Überwachungskapitalismus speist.
GAZETTE: Sie warnen, dass das Menschsein an sich und unsere Fähigkeit, als Demokratie zu funktionieren, möglicherweise in Gefahr sind.
ZUBOFF: Die Wettbewerbsdynamik des Überwachungskapitalismus hat einige wirklich mächtige wirtschaftliche Zwänge geschaffen, die diese Firmen dazu verleiten, immer bessere Produkte zur Verhaltensprognose zu entwickeln. Letztlich haben sie erkannt, dass dies nicht nur das Anhäufen riesiger Datenmengen erfordert, sondern auch das tatsächliche Eingreifen in unser Verhalten. Die Verlagerung geht von der Überwachung hin zu dem, was die Datenwissenschaftler als “Aktivieren” bezeichnen. Die Überwachungskapitalisten entwickeln nun “Handlungsökonomien”, indem sie lernen, unser Verhalten mit subtilen und unterschwelligen Anreizen, Belohnungen und Bestrafungen zu steuern und zu konditionieren, um uns in Richtung der für sie profitabelsten Ergebnisse zu lenken.
Was hier außer Kraft gesetzt wird, ist unser Recht auf die Zukunft, das Wesen des freien Willens. Die Vorstellung, dass ich mich selbst in die Zukunft projizieren und sie so zu einem sinnstiftenden Aspekt meiner Gegenwart machen kann. Dies ist der Kern der Autonomie und der menschlichen Handlungsfähigkeit. Die nahezu unbegrenzten „Mittel zur Beeinflussung von Verhalten“ des Überwachungskapitalismus höhlen die Demokratie von innen aus, denn ohne Autonomie im Handeln und Denken sind wir kaum in der Lage, moralisch zu urteilen und kritisch zu denken, wie es für eine demokratische Gesellschaft notwendig ist. Die Demokratie wird auch von außen untergraben, da der Überwachungskapitalismus eine noch nie dagewesene Konzentration von Wissen und der damit verbundenen Macht darstellt. Er weiß alles über uns, aber wir wissen wenig über ihn. Sie bestimmen unsere Zukunft, aber nur zum Nutzen von anderen. Ihr Wissen geht weit über die Sammlung der Informationen hinaus, die wir ihnen überlassen haben. Es ist das Wissen, welches sie aus diesen Informationen gewonnen haben, das ihren Wettbewerbsvorteil ausmacht. Und dieses Wissen werden sie niemals aufgeben. Diese Wissensasymmetrien führen zu völlig neuen Achsen der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
GAZETTE: Wie ließe sich diese Dynamik dann ändern?
ZUBOFF: Es gibt drei Bereiche, die wir angehen müssen, wenn wir dieses Zeitalter des Überwachungskapitalismus beenden wollen, so wie wir einst die Ära des „vergoldeten Zeitalters“ beendet haben.
Erstens brauchen wir einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Meinung. Dies beginnt damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Es bedeutet, ein Gefühl der Empörung und der Entrüstung zu wecken. Wir sagen: “Nein.” Wir sagen: “Das ist nicht in Ordnung.”
Zweitens müssen wir die Ressourcen unserer demokratischen Institutionen in Form von Gesetzen und Vorschriften mobilisieren. Dazu gehören Datenschutz- und Kartellgesetze, aber auch darüber hinaus. Wir müssen auch neue Gesetze und Regulierungsinstitutionen entwickeln, die sich speziell mit den Mechanismen und Erfordernissen des Überwachungskapitalismus befassen.
Ein dritter Bereich betrifft die Möglichkeit von Wettbewerbslösungen. Jede Umfrage unter Internetnutzern hat gezeigt, dass die Menschen die Praktiken der Überwachungskapitalisten hinter den Kulissen ablehnen, sobald sie sich ihrer bewusst werden. Das deutet auf eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage hin: ein Marktversagen. Wieder einmal sehen wir also eine historische Chance für eine Allianz von Unternehmen, ein alternatives Ökosystem zu gründen – eines, das uns zu dem früheren Verheißungen des digitalen Zeitalters als einer Ära der Befähigung und der Demokratisierung des Wissens zurückführt.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Uwe Alschner
Mehr von Shoshanna Zuboff in deutscher Sprache: (Essay)
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Buch: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
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Nur wenn der Kapitalismus als Ganzes abgeschafft wird, Firmen wie Google Amazon, Apple und alle anderen großen Firmen und NGO’s abgewickelt, respektive in Genossenschaften umgewandelt sind, kann überhaupt dies ein Ende haben!
Solange Geld im Spiel ist kann sich nichts ändern, egal welche Wirtschaftsform.
Um adäquate Zahlungsmittel, werden wir zumindest in der Übergangsphase wohl nicht umhinkommen.