17
Feb 2023

Never Again Is Now Bamberg

Thema: Gesundheit & Politik

Wenn ein Vorsitzender einer Jüdischen Gemeinde in Deutschland am 9. November das Wort ergreift, mag es für manche Zuhörer schwer zu ertragen sein. So offenkundig in Bamberg, wo sich nun der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde von einem „Aktionsbündnis gegen Rechts“ vorhalten lassen muss, mit seiner Rede am 9. November 2022 „das Thema verfehlt und die Gedenkrede mißbraucht zu haben.“ Denn der 9. November sei „für die Erinnerungskultur ein wichtiger Tag, an dem das Gedenken an die Opfer und das Verhalten der Täter im Mittelpunkt” zu stehen habe und keine „persönliche Abrechnung mit der Bundesregierung”. Der Redner hatte es gewagt, die Corona-Maßnahmen in die Überlegungen seiner Rede einzubeziehen. Die Kritiker hätten zuvor die Dokumentation von Vera Sharav sehen sollen.

Eine Analyse von Uwe Alschner 

Die Rede wurde zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 gehalten, in der in ganz Deutschland jüdische Geschäfte geplündert, Synagogen zerstört und Juden misshandelt und getötet wurden. Dieser Tag war der vorläufige Höhepunkt einer zunächst scheinbar schleichenden, später rasenden Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung von Juden in Deutschland seit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler und der nach dem Reichstagsbrand folgenden Gleichschaltung der Strukturen. Gut drei Jahre nach der Pogromnacht wurde die Endlösung beschlossen, der industriell organisierten Ausbeutung und Vernichtung von Juden (und anderen Minderheiten) in den Vernichtungslagern wie Auschwitz, Treblinka und Majdanek. Der hierfür spätestens seit 1979 (und der damals erfolgten Berichterstattung einer Kommission unter Vorsitz von Elie Wiesel) gebräuchliche Name lautet: Holocaust.

Corona-Maßnahmenkritik sei Holocaust-Leugnung, oder zumindest Relativierung. Das meinte der Leiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte, Jim G. Tobias, als er die Überlebende des Holocaust, Vera Sharav, im August 2022 nach ihrer Rede am Festakt zu 75 Jahren Nürnberger Kodex bei der Staatsanwaltschaft anzeigte. Wie geschichtsvergessen und gefährlich falsch sowohl Tobias als auch nun die Kritiker des 1. Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde in Bamberg liegen, wird deutlich, wenn man die Erinnerungskultur  auf ihren Kern zurückführt, die in Deutschland (und anderswo) zu einer ritualisierten Rückschau zu verkümmern droht. 

Die Erinnerung des Holocaust

Die Wiederholung des Holocausts zu verhindern ist das Ziel einer Rede zum 9. November, einem jener schicksalsträchtigen Tage im Kalender des Gedenkens, dem nicht zuletzt die zuvor erwähnte Kommission von Elie Wiesel besondere Aufmerksamkeit widmete. Allerdings, so Wiesel im Namen seiner Kommission in seinem Begleitbrief an US-Präsident Jimmy Carter, komme der Frage, welche Form das Gedenken haben müsse, die größte Bedeutung zu:

„Die Frage, wie wir uns erinnern sollen, nimmt den größten Teil des Kommissionsberichts ein. Gedenkstätte, Museum, Bildung, Forschung, Gedenken, Maßnahmen zur Verhinderung einer Wiederholung: das sind unsere Anliegen.”

„Maßnahmen zur Verhinderung einer Wiederholung”. Hierunter subsumierte die Kommission nicht zuletzt solche Reden, wie sie an jedem 9. November, an jedem 27. Januar und an vielen anderen Tagen der Erinnerung gehalten werden müssen.

An diesen Tagen und in diesen Reden ist der Kommission Wiesels zufolge natürlich die Erinnerung an die Toten geboten. Denn:

„Vor allem dürfen wir den Mördern keinen posthumen Sieg gönnen. Sie haben ihre Opfer nicht nur gedemütigt und ermordet, sie wollten auch ihr Andenken zerstören. Sie töteten sie zweimal, indem sie sie zu Asche verbrannten um anschließend ihre Tat zu leugnen. Den Toten jetzt nicht zu gedenken, hieße, sich zum Komplizen ihrer Mörder zu machen.”

Die Erinnerung sei der Wunsch der Opfer selbst gewesen, heißt es weiter. Man dürfe, zweitens, …

„… den Opfern die Erfüllung ihres letzten Wunsches nicht verwehren, ihres Wunsches, Zeugnis abzulegen. Was der Kaufmann aus Saloniki, das Kind aus Lodz, der Rabbi aus Radzimin, der Zimmermann aus Warschau und der Schreiber aus Wilna gemeinsam hatten, war die Leidenschaft, der Zwang, die Geschichte zu erzählen – oder jemand anderem die Möglichkeit zu geben, dies zu tun. Jedes Ghetto hatte seine Historiker, jedes Vernichtungslager seine Chronisten. Junge und Alte, Gebildete und Ungebildete, alle führten Tagebuch, schrieben Berichte, verfassten Gedichte und Gebete. Sie wollten erinnern und erinnert werden. Sie wollten die feindliche Verschwörung des Schweigens durchkreuzen, einen Funken des Feuers überliefern, das ihre Generation fast verzehrt hätte, und vor allem künftigen Generationen als Warnung dienen. Anstatt mit Verachtung auf die Menschheit zu blicken, die sie verraten hatte, träumten die Opfer davon, die Menschheit mit ihren eigenen verbrannten Seelen zu erlösen. Anstatt am Menschen und seiner möglichen Errettung zu verzweifeln, setzten sie ihren Glauben in ihn. Entgegen aller Logik und Vernunft entschieden sie sich für die Menschheit und versuchten, durch ihr Zeugnis, die Menschheit vor jener Gleichgültigkeit zu bewahren, die zur ultimativen Katastrophe (…) führen könnte.”

Es geht demnach ohne jeden Zweifel darum, die Menschen aufzurütteln. Gleichgültigkeit ist die eigentliche Gefahr, die Wiesel und seine Kollegen dem amerikanischen Präsidenten und der Weltöffentlichkeit um ihrer selbst willen ins Stammbuch schrieben:

„Drittens müssen wir uns um unserer selbst willen, um unserer eigenen Menschlichkeit willen erinnern. Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern würde unweigerlich zu Gleichgültigkeit gegenüber uns selbst führen, eine Gleichgültigkeit, die letztlich keine Sünde mehr wäre, sondern, in den Worten unseres Kommissars Bayard Rustin, „ein schrecklicher Fluch“ und somit die eigentliche Strafe.”

In Bamberg tat Martin Arieh Rudolph, der erste Vorsitzende der Israeltischen Kultusgemeinde, in einer (bisher nur zusammengefasst bekannten Ansprache) genau das, was Marian Turski in seiner Rede zum 75.Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz als unablässige Aufgabe beschrieben hatte: Der Gleichgültigkeit gegen Verletzungen von Bürger- und Menschenrechten durch Protest entschieden entgegen zu treten – und seien sie noch so klein. Auschwitz sei nicht nur nicht vom Himmel gefallen, so Turski damals, sondern könne sich wiederholen, wenn die Menschen den Grundrechtseinschränkungen gegenüber Dritten mit Gleichgültigkeit begegneten.

Rudolph erkannte in den zwischenzeitlich weithin als überzogen anerkannten Maßnahmen die Konturen eines „Eisbergs der Menschenverachtung“, weil Grundrechte wie die Religionsfreiheit und das Recht auf Körperliche Unversehrtheit eingeschränkt worden waren. Diese Feststellung am 9. November 2022 wird Rudolph nun heute von selbst ernannten Kämpfern gegen Antisemitismus nicht nur als „persönliche Abrechnung mit der Bundesregierung“ vorgeworfen, sondern auch als Schädigung der Interessen der Kultusgemeinde angelastet.

Merken die Kritiker nicht, wie sie sich dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen drohen, wenn sie sich in die inneren Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde einmischen? Wenn sie Vorgaben machen, was der jüdischen Sache dient?

Sie merken es nicht, wie ein Gespräch mit einer der Unterzeichnerinnen des Briefes an Herrn Rudolph verrät. Die in dem Schreiben mit „Andrea“ unterzeichnende Dame brüstet sich darin mit einer „langjährigen Erfahrung in Erinnerungsarbeit und im Kampf gegen Rechts“. Allerdings kennt sie weder die Rede von Marian Turski vom 27. Januar 2020, noch den Bericht der Wiesel-Kommission. Sie legt in dem insgesamt 17-minütigen Telefonat jedoch großen Wert darauf, „an jedem 27. Januar Gedenkveranstaltungen selbst“ zu organisieren. Man könne auch nicht jede Rede kennen, heisst es von der Dame, die insgesamt einen zwar durchaus aufrichtig um das Richtige bemühten, aber letztlich grob unreflektierten Eindruck bestätigt.

Ein Blick in den Text der Wiesel-Kommission hätte ihr klarmachen können, dass allen Überlebenden (auch Marian Turski, und auch Vera Sharav) bewusst ist, dass die Warnung vor Zuständen ähnlich jenen am Beginn der Nazizeit eben keine Relativierung des Holocaust sein kann. Sie sind vielmehr notwendige Maßstäbe für die Früherkennung von totalitären Entwicklungen, die letztlich zu ultimativen Katastrophen wie den industriell organisierten Vernichtungslagern führen können.

„Am Anfang machten [die Nazis] einen Schritt und warteten ab. Erst als es keine Gegenreaktion gab, wagten sie einen weiteren Schritt – und dann noch einen. Von Rassengesetzen bis hin zu Dekreten wie aus dem Mittelalter, von illegalen Vertreibungen bis hin zur Einrichtung von Ghettos und schließlich zur Erfindung von Todeslagern – die Mörder führten ihre Pläne erst aus, als sie merkten, dass der Rest der Welt sich einfach nicht um die jüdischen Opfer kümmerte. Bald darauf beschlossen sie, dass sie das Gleiche ungestraft auch mit anderen Völkern tun konnten. Wie immer begannen sie mit den Juden. Und wie immer hörten sie nicht nur mit den Juden auf.”

Der Autor Edwin Black hat mehrfach (zuletzt am Schluss von Teil 1 der Dokumentation von Vera Sharav) darauf hingewiesen, dass die technische Entwicklung der Zeit (und die durch Bereitstellung von Technik durch Partner in Wirtschaft und Industrie geleistete Unterstützung) einen wichtigen Beitrag zum Ausmaß des Holocaust ausmachte. Wiesel wies mit seiner Kommission auf die Rolle des technischen Fortschritts hin, der Ende der 1970er Jahre einen Nuklearen Holocaust zur realen Möglichkeit und zum gängigen Begriff machte. Er sah sich keinerlei Vorwurf der Relativierung oder Leugnung ausgesetzt. Ganz im Gegenteil. Aber Wiesel kannte auch nicht die heutigen Möglichkeiten der Genetik und Biotechnologie. Ebenso wenig ist bekannt, dass ihm die Kontinuitäten der Förderer von Nazis und transhumanistischen Vorstellungen der Moderne bewusst waren, die heute die Biotechnologie prägen. Vera Sharav weiß um diese Kontinuitäten. Und das gibt ihrer Warnung Glaubwürdigkeit und Berechtigung.

Was die Kritik an mutigen Rednern wie Martin Arieh Rudolph und auch an Kritikern der Corona-Maßnahmen (deren „antidemokratische, rassistische und antisemitische Positionen“ Herr Rudolph angeblich vertreten habe) so gefährlich macht ist das Othering, die Ausgrenzung, zu der sich die heutigen Kämpfer gegen Rechts berechtigt sehen. Es ist brandgefährlich, weil eben jene Ausgrenzung genau dem Muster der Nazis entspricht, mit dem sie Kritik und Widerstand zu brechen versuchten. Bei Wiesel heisst es warnend dazu:

„Auschwitz [war] möglich, weil der Feind des jüdischen Volkes und der Menschheit – und es ist immer derselbe Feind – es geschafft hat, die menschliche Gesellschaft zu teilen, zu trennen, zu spalten. Nation gegen Nation, Christen gegen Juden, Junge gegen Alte. Und zu wenige Menschen nahmen Anstoß daran. In Deutschland und anderen besetzten Ländern entschieden sich die meisten Zuschauer dafür, den Mördern nicht in die Quere zu kommen; auch in anderen Ländern zogen es viele Menschen vor, neutral zu bleiben. Infolgedessen mordeten die Mörder, starben die Opfer, und die Welt blieb die Welt.”

Wer legitime und sachliche Kritik an überzogenen Maßnahmen als antisemitisch, antidemokratisch oder rechtsextrem bezeichnet, betreibt jene Spaltung, die den faschistischen und menschenfeindlichen Kräften nützt, die den Untergang des Nazi-Regimes überlebt haben! Wer Warnungen von Holocaust-Überlebenden deligitimiert, begeht Frevel!

Dokumentation von Vera Sharav in deutscher Übersetzung: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5

Übersetzungen aus Bericht der Wiesel-Kommission von Uwe Alschner


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Robert Höschele
Robert Höschele
1 Jahr zuvor

Großartig, Uwe!!! Bracha uns alle, die G_TTES Schöpfung achten.

Reinhold Alefelder
Reinhold Alefelder
1 Jahr zuvor

„wenn die Menschen den Grundrechtseinschränkungen gegenüber Dritten
mit Gleichgültigkeit begegneten.“ – und weiterhin begegnen, wie es
war, wie es ist und wie es sein wird, dann müssen diese Menschen sich
fragen lassen: Was, außer Haß, sucht Ihr in diesem Universum?

Reinhold Alefelder
Reinhold Alefelder
Antwort an  Reinhold Alefelder
1 Jahr zuvor

„Together Alone“ – wie immer – ihr Menschen,
denkt doch einmal darüber nach, wes Schöpfung
Ihr seid?! Dem Einen entgeistert? Der Vielen
Untertan; den Untertanen zur Treue verpflichtet?
Welche Pflicht? – Was ist das denn? – Pflicht?
Wer denkt ihr Menschen denn, wer ihr seit? –
Von welcher Seite seit ihr denn? – Von Oben,
von Unten, von allseits, von niergends? Mensch,
Menschen, was denkt ihr denn, wer ihr seit?
All-Seits? – umph – nein, nicht doch; ihr seid
ein Gerstenkorn im Universum des Sein; und dies
ist noch groß! Glaubt mir, oder auch nicht.
Ihr werdet es eines Tages bestimmt einmal sehen.