Was Zucker und Tabak gemeinsam haben
Thema: Gesundheit & PolitikWeil die Kosten für die Behandlung von Krankheiten wie Diabtes, Herzinfarkt, Krebs oder Alzheimer immer weiter steigen und die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme bedrohen, kommt der Prävention eine immer größere Bedeutung zu. Auch die Krankenkassen Gesundheitskassen haben erkannt, dass die Steigerung von Versichertenzahlen nur dann Sinn macht, wenn die Kosten pro Versicherten nicht schneller steigen. Zucker enthält bereits nach landläufiger Meinung „leere Kalorien“ ohne weiteren Nährwert und wird mit Übergewicht, Diabetes und schlechter Zahngesundheit in Verbindung gebracht. Um den Zuckeranteil in Lebensmitteln und damit das Risiko von Folgeerkrankungen zu senken, hat der AOK-Bundesverband in dieser Woche in Berlin den 2. Zucker-Reduktions-Gipfel #ZRG2018 ausgerichtet.
Die AOK hat dafür weder Kosten noch Mühen gescheut und als einen der Hauptredner den amerikanischen Mediziner Prof. Dr. Robert H. Lustig einfliegen lassen, der in einem hoch interessanten Vortrag [PDF] detaillierte Erkenntnisse zu Toxizität (!) und Suchtpotenzial von Zucker präsentierte. Zucker, so Lustig, ist der Alkohol für Kinder. Fruktose wird danach genau wie Alkohol in der Leber verstoffwechselt und führt zu Fettleber und Leberzirrhose. Das Gehirn erhält durch Zucker einen Dopaminstoß. Dieser Neurotransmitter stimuliert seine Rezeptoren im Gehirn – und stumpft sie ab. Für die Wiederholung des von Dopamin ausgelösten Wohlgefühls wird in der Folge eine immer größere Menge notwendig. Zucker verhält sich diesbezüglich in gleicher Weise wie Alkohol oder Kokain.
In den USA plädiert Lustig seit langem dafür, Zucker von der GRAS-Liste zu nehmen, jener Liste, die Lebensmittelzusätze als generell unbedenklich und sicher einstuft. Es ist nachvollziehbar, dass die Industrie solche Pläne verhindern will. Es wurde lange versucht, das Problem als allgemeines Wohlstandsphänomen abzutun. Prassen und Faulenzen, Gluttony & Sloth, lautete der Vorwurf an Menschen mit Übergewicht. Mehr Disziplin!
Diese offensive Verteidigung hat der Vertreter der Zuckerhersteller, Gunter Tissen, auf der AOK-Tagung nicht gewagt. Doch Ablenkung war weiterhin sein Ziel. Es gelte, so Tissen, zu verhindern, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde. „Hören Sie auf, Zuckerwürfel zu zählen“, forderte er. Das könne gar kontraproduktiv sein, wenn Verbraucher weniger Zucker als Entschuldigung nähmen, mehr andere Kalorien zu essen. Im übrigen gebe es ja bereits zuckerfreie Alternativen und es müsse doch das Recht der Verbraucher bleiben, in eigener Verantwortung zu entscheiden, Zucker zu konsumieren. Gesetzgebung lehne die Industrie daher ab.
Teilnehmer der Veranstaltung begannen, sich zu wundern: als ob Prof. Lustig nicht soeben detailliert berichtet hatte! Keinerlei Kommentar des Lobbyisten zu den Kernaussagen des Wissenschaftlers!
In einem bemerkenswerten Akt der Selbstbeherrschung meldete sich Dr. Lustig dann als ganz gewöhnlicher Zuhörer aus dem Publikum zu Wort und stellte klar: Die selbe Argumentation – Freiheit der Entscheidung für mündige Verbraucher – habe ihren Ursprung in keinem Verfassungsvertrag. Sie sei 1962 erfunden worden – und zwar von der Tabakindustrie. Als ihre Argumente der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Tabak wissenschaftlich unhaltbar geworden waren. Dreißig Jahre lang habe die Tabakindustrie damit noch Erfolg gehabt. Der einsame Cowboy in der Zigarettenwerbung war das Symbol dieser Illusion. Doch ein süchtiger Verbraucher könne nicht frei entscheiden. Kein Raucher, kein Abhängiger von Opioiden Schmerzmitteln – und kein Kind, dass dem Angebot von zuckerhaltigen Energydrinks und Junk-Food ausgesetzt wird.